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Vorbilder

"Unser Land brennt, es blutet zu Tode"

Der anglikanische Bischof von Johannesburg, Desmond Tutu, über den Kampf gegen die Apartheid

[Der Spiegel, Ausgabe 49/1985]

SPIEGEL: Bischof Tutu, Sie haben vor kurzem mit Ihrer Auswanderung gedroht, falls das Morden unter den Schwarzen nicht aufhöre. Aber in den schwarzen Wohngebieten sterben fast täglich Kollaborateure des weißen Regimes: revolutionäre Apartheidgegner, manchmal auch Kriminelle, bringen schwarze Polizisten und Staatsbedienstete als Verräter um. Packen Sie jetzt die Koffer?

TUTU: Ich sprach damals bei einer emotionsgeladenen Beerdigung. Es war eine unvorbereitete Aussage. Ich wollte meine tiefempfundene Abscheu gegen Gewalt zum Ausdruck bringen. Ich liebe dieses Land viel zu leidenschaftlich, als dass ich gehen könnte, besonders in der gegenwärtigen Lage.

SPIEGEL: Das Morden geht weiter, selbst Sie sind dagegen machtlos?

TUTU: Ich hatte natürlich gehofft, dass mein Aufruf befolgt werden würde. Aber wir haben vermutlich den Punkt erreicht, wo wir nicht mehr umkehren können. Die Behandlung der Quislinge ist genauso grausam wie die Rache an den IRA-Verrätern in Nordirland. Solange die Apartheid nicht aus der Welt ist, fürchte ich, werden wir mit diesen Umständen leben müssen.

SPIEGEL: Sind Sie generell gegen Gewalt, oder akzeptieren Sie bestimmte Formen des gewaltsamen Widerstandes?

TUTU: Ich hätte nicht den Friedensnobelpreis bekommen, wenn ich nicht gegen jede Form der Gewalt wäre – gegen die Gewalt eines Unterdrückerregimes wie auch gegen die Gewalt der Leute, die ein solches System bekämpfen.

SPIEGEL: Präsident Botha hat unlängst nur eine Vorbedingung für Gespräche mit Apartheidgegnern wie Ihnen genannt: die Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit. Was also steht einer Begegnung mit Botha im Weg?

TUTU: Botha hat sich geweigert, mich zu treffen. Ursprünglich hatte er gesagt, die Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit sei seine Vorbedingung. Dann fügte er hinzu, wir sollten auch dem bürgerlichen Ungehorsam entsagen. Daraufhin habe ich ihm gesagt: Nie im Leben, denn welche anderen Mittel bleiben dann noch Leuten wie mir, die mit friedlichen Mitteln die Apartheid beenden wollen?

SPIEGEL: Botha hatte Sie doch eingeladen, mit einer kirchlichen Delegation zu ihm zu kommen?

TUTU: Das habe ich bereits vor fünf Jahren erlebt. Damals gingen wir zu ihm, aber er wollte nicht wirklich mit uns diskutieren. Botha will bei solchen Gelegenheiten nur seine Überzeugungen zum Ausdruck bringen – und wir sollen im Einverständnis dazu nicken.

SPIEGEL: Sie sehen keinen Sinn mehr in Gesprächen mit dem Präsidenten?

TUTU: Das habe ich nicht gesagt. Ich will ihn treffen, aber von Mann zu Mann, oder allenfalls mit einer kleinen, ausgesuchten Gruppe. Doch zunächst müsste er den Ausnahmezustand aufheben und seine Armee aus den schwarzen Wohngebieten abziehen.

SPIEGEL: Sind das Ihre Vorbedingungen?

TUTU: Ja. Im Prinzip bin ich noch zu Gesprächen bereit.

SPIEGEL: Repräsentiert die militant-revolutionäre Befreiungsbewegung African National Congress (ANC) einen großen, wenn nicht sogar den größten Teil der schwarzen Bevölkerung Südafrikas?

TUTU: O ja, und ich akzeptiere den ANC-Chef Nelson Mandela als meinen Führer.

SPIEGEL: Trotzdem würden Sie vor einem Gespräch mit Botha nicht die Freilassung Mandelas und die Legalisierung des ANC fordern?

TUTU: Wenn ich mit Botha spräche, hätte ich kein Verhandlungsmandat. Ich wäre nur ein Vermittler, der versuchen würde, die derzeitigen Machthaber mit den wahren Führern des Volkes ins Gespräch zu bringen.

SPIEGEL: Zählt zu diesen Führern nicht auch der Zulu-Chef Gatsha Buthelezi? Der gehört nicht dem ANC an und hat dennoch eine große Gefolgschaft.

TUTU: Er hat Gefolgschaft, sicher. Aber Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Zahl seiner Anhänger viel kleiner ist als die anderer Führer.

SPIEGEL: Der schwarze Widerstand gegen die Apartheid ist zersplittert. Die United Democratic Front (UDF), die dem ANC nahesteht, die Azanian People Organisation (Azapo), die zur Schwarzen Bewusstseinsbewegung gehört und keine Weißen in ihren Reihen duldet, und Buthelezis Inkatha liefern einander oft blutige Gefechte. Schwächt das nicht den Kampf gegen die Apartheid?

TUTU: Natürlich wünschte ich mir völlige Einigkeit. Die Zukunft liegt in einer Koalition all dieser Kräfte. Im Moment brauchen wir nur eine Übereinkunft für gemeinsames Handeln. Das haben wir vor kurzem zu erreichen versucht, als wir die verschiedenen Gruppen zusammenbrachten. Und ich glaube, wir haben den Grundstein für den Erfolg gelegt.

SPIEGEL: Auch ohne die Einheit der Schwarzen?

TUTU: Einheit wäre wichtig, aber wir griffen nach den Sternen, wenn wir jetzt ideologische Übereinstimmung erwarteten.

SPIEGEL: Könnten nicht Sie der Mann sein, der die Schwarzen eint, wenn Sie eine politische Karriere wählten? Oder wollen Sie Priester bleiben, der in der Politik nur zeitweise eine wichtige Rolle spielt?

TUTU: Ich hatte noch nie politische Ambitionen. Vor wenigen Tagen habe ich noch zu Frau Mandela gesagt: "Sorgen Sie dafür, dass Ihr Mann bald aus dem Gefängnis entlassen wird, damit er alle die Dinge tun kann, die getan werden müssen."

SPIEGEL: Haben Sie Nelson Mandela jemals persönlich getroffen?

TUTU: Einmal, bevor er Anfang der 60er Jahre zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Ich studierte damals in Johannesburg, und Nelson war Diskussionsleiter bei einem Streitgespräch, an dem ich teilnahm. Er blieb mir in Erinnerung als ein großer, gutaussehender Mann, als eine Persönlichkeit, die etwas ausstrahlt.

SPIEGEL: Haben Sie regelmäßige Kontakte zur ANC-Führung im Exil?

TUTU: Ich sage nach jeder meiner Reisen, dass ich mich mit ANC-Vertretern getroffen habe. Hin und wieder teilen wir die Heilige Kommunion miteinander. Ich werde mir von der Regierung nicht vorschreiben lassen, wer meine Freunde oder meine Brüder in Christus sein sollen.

SPIEGEL: Nicht nur bei der südafrikanischen Regierung gilt der ANC als eine Bewegung, die stark unter kommunistischem Einfluss steht. Wie können Sie und die Kirche Ihre Nähe zu einer teilweise atheistischen Gruppe rechtfertigen?

TUTU: Ich muss Ihnen sagen, dass dies üble Nachrede ist. Fast die gesamt ANC-Führung ist getauft. Albert Luthuli, der frühere ANC-Präsident, der ebenfalls den Nobelpreis bekam, war eine führende Persönlichkeit auch in der Kirche. Und es gibt andere ANC-Führer, die ähnlich denken wie er, den amtierenden Präsidenten Oliver Tambo eingeschlossen. Der wollte sogar einstmals anglikanischer Priester werden.

SPIEGEL: Das ist lange her...

TUTU: Leute wie Nelson Mandela waren lange Zeit gegen Kommunisten im ANC. Aber schon in der Zeit, als sie noch in Südafrika waren, haben die ANC-Führer gemerkt, dass die einzigen Weiße, die sie mit Respekt und wie Menschen behandelten, auch jene waren, die zur südafrikanischen Kommunistischen Partei gehörten. Mehr noch: Die ANC-Erfahrung im Exil hat gelehrt, dass Unterstützung fast immer aus den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang kommt.

SPIEGEL: Militärische Hilfe bestimmt. Aber Mitglieder der südafrikanischen Kommunistischen Partei sitzen doch auch im Zentralkomitee des ANC?

TUTU: Ich glaube nicht. Das ist eine der Behauptungen, die Bewegung in Verruf zu bringen. Weil es keinen Grund gibt, die ANC-Forderungen abzulehnen, nimmt die Regierung – wie immer – den Kommunismus zu Hilfe. Der Westen wurde doch nicht kommunistisch, weil er mit Hilfe Russlands gegen den Nationalsozialismus kämpfte. Warum heißt es also immerzu, dass unser Volk kommunistisch wird, nur weil es Hilfe von woher auch immer annimmt? Wir kämpfen für die Menschenrechte, für ein politisches System, in dem die Menschen die Freiheit haben, sich für eine Ideologie ihrer Wahl zu entscheiden. Wir hoffen, dass die Demokratie so attraktiv sein wird, dass totalitäre Alternativen keine Chance haben. Auch in Großbritannien und in der Bundesrepublik gibt es kommunistische Parteien, ohne dass die Regierungen dort kommunistisch wären.

SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, dass Kirchenmänner wie Sie ausgespielt haben, wenn in Südafrika Kommunisten das Sagen bekämen?

TUTU: Jeder, der gegen die Apartheid ist, wird in Südafrika als Kommunist abgestempelt. Auch ich werde als Kommunist bezeichnet. Nur, da sagt sich mein Volk: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

SPIEGEL: Es gibt zwei Beispiele in der jüngsten Geschichte des südlichen Afrika, die zu denken geben: Kirchenmänner in Mosambik und Angola haben sich bis zur Unabhängigkeit Mitte der 70er Jahre furchtlos gegen die portugiesischen Kolonialherren und für die Sache des Volkes eingesetzt. Dennoch machen die heutigen Machthaber dort kein Geheimnis aus ihrer Kirchenfeindlichkeit. Könnte sich so etwas nicht in Südafrika wiederholen?

TUTU: Warum sprechen Sie von Mosambik und Angola und nicht von Simbabwe? Dort hat sich die katholische Kirche ebenfalls mutig gegen die Grausamkeiten des Siedlerregimes im früheren Rhodesien gewandt, und die Kirchen wurden nicht geschlossen, als die Schwarzen die Macht übernahmen. Warum sprechen Sie nicht von Kenia, das nach den Mau-Mau-Aufständen zu einem der stabilsten Länder Afrikas wurde – mit einer starken Kirche? Die meisten afrikanischen Länder sind nicht marxistisch, und ihre Völker sind gläubig.

SPIEGEL: Als in Mosambik und Angola die Revolution siegte, mussten die Weißen auf die letzten Schiffe rennen, um außer Landes zu fliehen. Im frühere Rhodesien hingegen gab es zwar auch einen blutigen Bürgerkrieg. Aber der Machtwechsel wurde schließlich am Konferenztisch ausgehandelt: Weiße und schwarze Rhodesier trafen sich unter englischer Vermittlung im Londoner Lancaster House. Welche der beiden Möglichkeiten halten Sie in Südafrika für wahrscheinlicher?

TUTU: Ich bin kein Hellseher, aber ich hoffe, dass es keine weiteren unnötigen Todesfälle mehr gibt. Die Apartheid hat bereits zu viele Menschenleben gekostet. Seit August 1984 starben bei den Unruhen mehr als 800 Menschen. Und es können noch viel mehr werden.

SPIEGEL: Seit die südafrikanische Regierung Anfang November die Zensur für Journalisten, besonders für Bildberichterstatter, verschärft hat, wird es immer schwieriger, über die blutigen Vorgänge in den schwarzen Wohngebieten etwas Verlässliches zu erfahren. Die Regierung erhofft sich davon eine Beruhigung der Lage. Zu Recht?

TUTU: Das ist ein alter Trick von Unrechtsregimen: Sie erschießen den Boten, weil ihnen die Botschaft nicht gefällt. Ich finde das furchterregend. Die Situation war schon schlimm, als darüber noch einigermaßen frei beichtet werden durfte. Man kann sich vorstellen, und der Gedanke lässt einen erschauern, was von nun an – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – passieren wird.

SPIEGEL: Bischof Tutu, für Zehntausende junger radikaler Schwarzer, die sich vorgenommen haben, das System mit Gewalt zu stürzen, die sich untereinander mit "Genosse" anreden, die schon seit Monaten nicht mehr zur Schule gehen – für diese jungen Revolutionäre sind selbst Sie ein Onkel Tom, ein Angepasster, der mit dem System lebt. Wie lange können Sie noch ein bisschen mäßigend wirken?

TUTU: Wenn ich jung wäre, hätte ich mich auch schon längst abgeschrieben. Mich wundert, dass die Jungen überhaupt noch Leuten wie unsereinem zuhören.

SPIEGEL: Ängstigt Sie das nicht? Sie könnten schnell zwischen die Fronten von Apartheidverteidigern und radikalen Apartheidgegnern geraten.

TUTU: Kürzlich unterhielt ich mich mit der Frau eines weißen Freundes auf der Straße. Da drohte ein junger weißer Passant, er werde mir eine Handgranate in die Tasche stecken. Sie haben recht, ich bin ein mögliches Ziel für Angriffe von allen erdenklichen Leuten. Ich bekomme schon lange Todesdrohungen. Wenn sogar Mordanschläge auf den amerikanischen Präsidenten verübt werden können, welche Chance haben dann geringere Sterbliche wie ich? Aber ich werde mir nicht gestatten, deswegen durchzudrehen.

SPIEGEL: Sie nehmen gleich den schlimmsten Fall an. Sie könnten ja auch verhaftet werden, wie Tausende von Apartheidgegnern während der letzten Monate.

TUTU: Was nützt es schon, wenn ich mir heute über eine mögliche Verhaftung Gedanken mache? Es stimmt aber, dass fast alle Schwarzen, die eine Gefolgschaft von auch nur einiger Bedeutung haben, heutzutage im Gefängnis oder im Exil sitzen. Indem die Regierung versucht, die Führer des Volkes zu zerstören, zerstört sie sich letztlich selbst. Nehmen Sie nur den in weiten Landesteilen erfolgreichen Käuferboykott. Seit die meisten Bürgerrechtskämpfer verschwunden sind, haben die Geschäftsleute keine Gesprächspartner mehr, mit denen sie über Lösungen verhandeln könnten.

SPIEGEL: Die Geschäftswelt hat seit neuestem erkannt, dass viel Schwarze den Kampf gegen die Apartheid auch als einen Kampf gegen den Kapitalismus betrachten. Deswegen wandeln sich führende Industrievertreter zu Reformpredigern; einige von ihnen fuhren sogar zu Gesprächen mit dem ANC nach Sambia. Lässt sich die schwarze Meinung von solchen Aktionen noch beeinflussen?

TUTU: Wenn wir sehen, dass die Kapitalisten einen ernsthaften Beitrag zur Lösung unserer Probleme leisten, dann könnte das durchaus die schwarze Opposition gegen den Kapitalismus besänftigen.

SPIEGEL: Kommt die Einsicht von Teilen der Geschäftswelt nicht zu spät?

TUTU: Ich bewahre mir meine tiefe Abneigung gegen den Kapitalismus. Meine Erfahrung mit dem Kapitalismus hat mich gelehrt, dass er roh und unmenschlich ist. Er verlangt Wettbewerbsdenken und fördert einige der schlimmsten menschlichen Eigenschaften. Ich sähe viel lieber eine Gesellschaft, die fürsorglicher, mitleidiger wäre, mehr zum Teilen denn zum Raffen bereit. Im Grunde bin ich ein Sozialist.

SPIEGEL: Welchen Sozialismus meinen Sie denn? Können Sie einen real existierenden Sozialismus als Beispiel nennen?

TUTU (lacht): Nein, ich bin ein Utopist, und das möchte ich auch bleiben. Ich hoffe, dass ich auch ein Visionär bin und ein Idealist.

SPIEGEL: Bischof Tutu, können Sie sich an eine Begebenheit aus Ihrer Kindheit erinnern, die Ihnen die Diskriminierung erstmals bewusst machte?

TUTU: Das war im Städtchen Ventersdorp auf dem platten Land, wo ich aufwuchs und an das ich viele glückliche Erinnerungen habe. In der Grundschule lernten wir Geschichte, und merkwürdigerweise wurden die Schwarzen im Krieg gegen die Kolonialisten immerzu als Viehdiebe bezeichnet, während die Weißen die Rinderherden erbeuteten.

SPIEGEL: Und wann wurden Sie ein entschlossener Apartheidgegner?

TUTU: Das kam mit meiner Ernennung zum Kirchenvorsteher in Johannesburg. Im Mai 1976 schrieb ich an den damaligen Premierminister Johannes Vorster und warnte ihn vor der Wut, die unter den Schwarzen wuchs. Vorster zog es vor, meinen Brief zu ignorieren [zum Text des Briefes von 1976]. Einen Monat später kam es zu blutigen Aufständen, wurden viele hundert Menschen getötet. Diese Ereignisse wirken bis heute nach. Ich bin überzeugter denn je, dass Apartheid ein schlimmer Irrweg ist.

SPIEGEL: Als prominenter Regimegegner leiden Sie weniger unter der Apartheid als viele Namenlose.

TUTU: Ich darf nicht wählen.

SPIEGEL: Wohnen dürfen Sie auch nicht, wo Sie wollen. So liegt Ihre offizielle Bischofsresidenz in einem vornehmen weißen Wohngebiet von Johannesburg...

TUTU: Ich verstoße gegen das Gesetz, wenn ich dort wohne.

SPIEGEL: Sie können das riskieren, weil man sich an Sie nicht herantraut. Oder verbringen Sie mehr Zeit in Ihrem Privathaus in Soweto?

TUTU: Wir verbringen ungefähr gleichviel Zeit in den beiden Häusern. Und gemäß den geltenden Apartheidgesetzen muss ich immer das verhasste Passbuch bei mir tragen, obwohl ich für mich entschieden habe, dass ich mich in diesem Punkt verweigere. Ich muss in meinem eigenen Land eine Erlaubnis einholen, wenn ich umziehen will. Wenn ich nach Soweto fahre, muss ich den Spießrutenlauf durch die Straßensperren über mich ergehen lassen. Viele Weiße behandeln mich in erster Linie als Schwarzen und nicht als menschliches Wesen.

SPIEGEL: Hat sich Ihre Einstellung gegenüber den Weißen im Lauf der Jahre geändert?

TUTU: Ich mache mir heute mehr Sorgen um sie als jemals zuvor. Das glauben mir die Weißen vielleicht oft nicht.

SPIEGEL: Als Bischof von Johannesburg sind Sie sowohl für schwarze als auch für weiße Christen in Ihrer anglikanischen Kirche zuständig. Doch viele Ihrer weißen Gemeindemitglieder lehnen Sie ab, weil sie keinen Revolutionär zum Hirten haben wollen. Einige haben die Gemeinde verlassen. Werden Sie missverstanden?

TUTU: Das scheint leider der Fall zu sein. Meine Fürsorge gilt ganz Südafrika. Ich bin für ein Land, in dem Schwarze und Weiße friedlich nebeneinander leben. Übrigens haben nur einige wenige Weiße die Gemeinde verlassen – viel weniger, als wir befürchtet hatten.

SPIEGEL: Wie viele von den 4,8 Mio. Weißen in Südafrika wären wohl bereit, in einem Land, wie es Ihnen vorschwebt, mit schwarzer Mehrheitsherrschaft zu leben?

TUTU: So wie die Dinge im Moment stehen, blieben wohl nicht sehr viele. Aber das hätte man ja auch von den weißen Rhodesiern gedacht.

SPIEGEL: Immerhin verließ zunächst mehr als die Hälfte aller weißen Rhodesier das Land.

TUTU: Die meisten Weißen, die heute in Simbabwe leben, fragen sich inzwischen, warum sie für Ian Smith gekämpft haben. Und viele Ex-Rhodesier, die zunächst weggegangen waren, kehren in letzter Zeit wieder zurück. Diese Leute entdecken jetzt, dass sich so furchtbar viel gar nicht geändert hat – außer dass ihnen nicht mehr die Gefahr droht, aus dem Land gejagt zu werden.

SPIEGEL: Aber diese Gefahr droht Südafrikas Weißen, wenn sie nicht bald die Apartheid abschaffen?

TUTU: Ich fürchte ja, aber Südafrika ist in vielerlei Hinsicht auch ganz anders als Simbabwe. Es gibt verhältnismäßig wenige Weiße, die zum Beispiel nach England auswandern wollen.

SPIEGEL: Außerdem haben ungefähr zweieinhalb Millionen weiße Afrikaaner kein Mutterland, in das sie zurückgehen könnten.

TUTU: Genau. Wenn diese Buren in anderen Ländern anklopfen würden, dann hätte man dort vermutlich allergrößte Bedenken gegen solche Einwanderer, die gleich ihren Rassismus mitbrächten.

SPIEGEL: Kurz nachdem Sie vor knapp einem Jahr den Friedensnobelpreis bekommen hatten, verlangten Sie von der südafrikanischen Regierung einen Zeitplan. Sie sagten damals, in höchstens zwei Jahren solle die Apartheid abgeschafft sein. Nun ist die Hälfte der Frist um. Macht Ihnen die Entwicklung Hoffnung?

TUTU: Nein. Ich stimme mittlerweile mit der unlängst vom Commonwealth gesetzten Frist überein, das heißt, die Regierung hat bis höchstens Mitte nächsten Jahres Zeit. Danach werde ich mich weltweit für Strafsanktionen einsetzen.

SPIEGEL: Das Commonwealth sieht solche Sanktionen als freiwillig an, es gibt keine automatische Bestrafung, wenn die Frist verstrichen ist.

TUTU: Das stimmt leider. Ich werde Zwangssanktionen fordern, denn die Lunte brennt täglich weiter ab. Es bleibst nicht mehr viel Zeit, und die Lage ist verzweifelt ernst. Der Regierung wiederum fallen nur Worte und Formeln ein, die – wenn man sie genauer untersucht – beweisen, dass Pretoria von einer auf Hochglanz polierten Apartheid spricht.

SPIEGEL: Welche Rolle können Sie persönlich und die Kirche allgemein spielen, um Südafrikas anscheinend unaufhaltsamen Rutsch in die Katastrophe noch zu stoppen?

TUTU: Wir Kirchenvertreter sind die Wegbereiter für eine Versöhnung von Schwarzen und Weißen. Wir müssen für die Stimmenlosen sprechen, wir müssen für Gerechtigkeit eintreten, denn das ist die Voraussetzung für Frieden. Und wir hoffen, dass wir dann da sind, wenn die Scherben aufgesammelt werden und das zerfetzte Land wieder zusammengefügt wird.

SPIEGEL: Sie glauben, dass Südafrika in Fetzen fliegen wird?

TUTU: Unser Land brennt. Es blutet zu Tode, und ich fürchte, dass wir an der Schwelle zu einer furchtbaren Katastrophe stehen, wenn die Apartheid nicht sofort abgeschafft wird. Das kann aber nur mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft geschehen.

SPIEGEL: Von westlichen Politikern und Industrieführern verlangen Sie, auf den Rücktritt von Präsident Botha zu drängen. Den internationalen Bankiers, die gegenwärtig über Südafrikas Zahlungsunfähigkeit verhandeln, haben Sie geraten, hart zu bleiben, solange Botha an der Macht sei.

TUTU: Ja, ich habe darauf hingewiesen, dass auf diese nichtgewaltsame Art und Weise Druck ausgeübt werden kann.

SPIEGEL: Sie glauben nicht mehr, dass Bothas schrittweise vorgenommene Reformen einen friedlichen Wandel im Apartheidstaat herbeiführen können?

TUTU: Die einzige Sprache außer Gewalt, die diese Regierung und die Weißen verstehen, ist Druck von außen. Die führenden Geschäftsleute sind erst nach Sambia zum ANC gegangen, als die Währung des Landes zusammenbrach. Die internationalen Bankiers haben jetzt die Gelegenheit, ihre Hilfe an strenge Bedingungen für die Regierung zu knüpfen.

SPIEGEL: Welche?

TUTU: Wir stecken aus politischen Gründen in einer Wirtschaftskrise. Also gebe ich den Bankiers den guten Rat: Wenn ihr Stabilität und Sicherheit für eure Investitionen wollt, dann muss die Apartheid weg.

SPIEGEL: Tatsächlich sind die Umschuldungsverhandlungen – wegen der unsicheren politischen Lage – noch keinen Schritt weitergekommen. Muss erst Botha gehen, bevor sich etwas bewegt?

TUTU: Wenn er die Apartheid abschafft, kann er bleiben.

SPIEGEL: Wie lange kann die Minderheitsregierung noch überleben?

TUTU: So lange wie Kohl, Thatcher und Reagan sie schützen.

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