Indien vor dem 15. August
1947
Einige statistische Zahlen Britisch-Indiens vor
dem 15. August 1947 beleuchten schlagartig die Situation, in die sich Gandhi
nach seiner Rückkehr gestellt sah: 410 Millionen Einwohner, davon 281 Millionen
Hindus, 115 Millionen Moslems, 7 Millionen Christen und 6 Millionen Sikhs
standen 150.000 Engländern gegenüber. Die Hindus waren in 3.000 Kasten und
Unterkasten aufgeteilt, davon ungefähr 70 Millionen Unberührbare und
Nachkommen der Ureinwohner. Unter britischer Verwaltung standen 310 Millionen
Einwohner und bewohnten etwa zwei Drittel des Territoriums. Ein Drittel des
Landes mit ca. 100 Millionen Einwohnern waren in 565 Fürstenstaaten aufgeteilt;
es gab 15 Sprachen und 845 Dialekte. 85% Analphabeten und eine unbeschreibliche
Armut (...) standen der Unabhängigkeit im Wege.
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finden Sie auf der Seite Indien.]
Gandhi gewann nach und nach
einen starken Rückhalt im indischen Volk
Als Gandhi nach Indien zurückkehrte, begann er
seine Gedanken in der Öffentlichkeit vorzutragen. Den zivilen Widerstand gegen
die uneingeschränkte Macht Englands bewies der Salzmarsch
im Jahre 1930, durch den das staatliche Salzmonopol gebrochen und den
Indern eine wirtschaftliche Erleichterung verschafft wurde. Wesentlich war
Gandhi jedoch, dass seine Landsleute lernten, die militärische Vorherrschaft
der Briten durch eine stärkere moralische Macht zu bezwingen. Während
anfänglich immer wieder gewaltlose Machtproben an der Zuchtlosigkeit der Massen
scheiterten, gewann Gandhi nach und nach einen starken Rückhalt im indischen
Volk und stärkte dessen nationales Selbstbewusstsein.
Er pries das einfache Leben
und erhob das Spinnrad zum Zeichen dieser Lebensform
Gandhis Weg führte ihn
zurück zu den Kraftquellen der Religion. Er kämpfte erbittert gegen
die Industrialisierung an und versuchte, sich selbst und seine
Landsleute gegen westliche Gedanken und Lebensformen abzuschirmen. Er
pries das einfache Leben, das er durch vegetarische Lebensweise, durch
Naturheilkunde und Hygiene prägte. Er erhob das Spinnrad zum Zeichen
dieser Lebensform und beschwor die Inder, durch selbstgesponnene und
gewebte Stoffe die Dorfindustrie einzuführen und den Kampf gegen die
englische Textilindustrie aufzunehmen. Zeitweilig setzte er sich zu
Beginn öffentlicher Vorträge vor seiner Zuhörerschaft an das
Spinnrad, um so für seine Idee zu werben.
Die Aussöhnung der Kastenhindus mit den
"Unberührbaren" war Gandhi ein offensichtliches Anliegen, das er
jedoch nicht verwirklichen konnte. Vielleicht lag dies daran, dass er die
Unberührbaren beschwor, ein Ja zu ihrem Leben in der Verachtung und
Unsicherheit zu finden. Während er durch ein "Fasten zum Tode", mit
dem er seine Forderungen eindrücklich und zwingend zu machen verstand, die
Hindus und Parias einander immer näher brachte, gelang ihm dies zwischen Hindus
und Moslems nicht. Die Angehörigen seiner eigenen Religionsgemeinschaft
verweigerten ihm ihre Treue, so dass die blutigen Auseinandersetzungen zwischen
den streitenden Gruppen zunahmen. Als endlich die Unabhängigkeit Indiens
ausgerufen und am 15. August 1947 Wirklichkeit wurde, erfolgte zugleich die
Teilung zwischen Indien und Pakistan.
Mit großer Sorge sah er,
wie sich die einzelnen Gruppen zerstritten
Gandhis Einstellung zur Gewaltlosigkeit bleibt
ein Vermächtnis. Dabei darf nicht übersehen werden, dass er durch seine
einseitige Lebensweise und den "Rückzug zum einfachen Leben" an den
Erfordernissen der Zeit vorüberging und damit zugleich politischen
Entscheidungen eines zeitgerechten Staatswesens im Wege stand.
Dramatisch bleibt das
Ende Gandhis. Am 30. Januar 1948 wurde er, dem der indische Dichter Tagore den
Titel Mahatma (Große Seele) gegeben hatte, durch Pistolenschüsse getötet. Er
hatte sein Leben lang für eine gewaltlose Politik gekämpft. Mit großer Sorge sah
er, wie sich vor und nach der Unabhängigkeitserklärung die einzelnen Gruppen
zerstritten und sich gegenseitig Machtkämpfe lieferten. Er versuchte zu
vermitteln und rief zur Verbrüderung der Religionen auf. Bereits zehn Tage vor
seinem Tod war auf einem Grundstück eine Bombe explodiert, als Gandhi eine
Gebetsversammlung abhielt.
Wie in einer
Todesahnung hatte Gandhi wenige Tage vor dem Attentat gesagt: "Wenn ich durch
die Kugel eines Verrückten sterben sollte, so muss ich es lächelnd tun. Es darf
kein Zorn in mir sein. Gott muss in meinem Herzen und auf meinen Lippen sein,
und ihr müsst mir eins versprechen: Wenn so etwas passieren sollte, dürft ihr
keine Träne vergießen. Ich habe meinen Dienst an der Menschheit nicht auf Bitten
irgendeines Menschen hin unternommen, ich kann ihn auch nicht auf irgend
jemandes Bitten hin aufgeben. Ich bin so, wie Gott mich wollte, und ich handle,
wie er mich anweist. Lasst ihn tun, was er von mir will. Wenn er will, so kann
er mich töten. Ich glaube, dass ich so handle, wie er mir befiehlt."
Die Nachricht von seinem Tode löste in der
ganzen Welt Trauer aus. Die Vereinten Nationen setzten ihre Flaggen auf
Halbmast. Vom Vatikan bis zum Kreml wurde Anteilnahme zum Ausdruck gebracht.
Gandhi bleibt ein großes Vorbild in der Welt.
[entnommen aus: Gerhard Zimmermann, Sie
widerstanden, Neukirchen-Vluyn 1995, 49ff.]