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Der folgende Text nennt die zentralen Elemente des Regierungssystems Großbritanniens. Hierzu zählen neben der herausgehobenen Stellung des Premierministers und der nach wie vor vorhandenen Monarchie insbesondere die beiden Verfassungsgrundlagen rule of law und Parlamentssouveränität. Die besondere britische Form des gewaltenverschränkten Parlamentarismus wird häufig als "Westminster-Modell" bezeichnet. Ein weiterer Abschnitt fasst die zentralen Kennzeichen dieses Modells zusammen und nennt die gängigen Kritikpunkte.

...zum Abschnitt "Westminster-Modell"

Großbritannien - oder wie oft verkürzt und falsch gesagt wird: England - wartet mit vielen Besonderheiten auf. Die Probleme beginnen meist schon beim territorialen Aufbau des "Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland" - wie die offizielle Staatsbezeichnung lautet. Das folgende Schaubild veranschaulicht diesen Aufbau:

Gemeinsames Staatsoberhaupt des Vereingten Königreichs ist die britische Königin. Die gemeinsame Staatsangehörigkeit ist britisch. Unterhalb dieser Ebene finden wir allerdings mehrere Nationalitäten. Es lassen sich folgende Identitäten unterscheiden: englisch, walisisch, schottisch, irisch, nordirisch (Ulster) und britisch.

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Das politische System Großbritanniens

Übersicht:

Verfassungsgrundlagen (I): Rule of Law

Staatsoberhaupt und Kabinett

Verfassungsgrundlagen (II): Parlamentssouveränität

Prinzipien der Regierungsarbeit

Das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland, wie der volle Staatsname lautet, ist der einzige europäische Staat ohne eine in einem einzigen Dokument ausformulierte Verfassung. Dies bedeutet aber nicht, dass es keine Quellen gibt, die die heute vorfindbare Staatsform begründen und erläutern. Zu diesen gehören der Bestand an gesetzlichen Vorschriften, überlieferte Konventionen und anerkannte Darstellungen der Verfassungsprinzipien (...).

Verfassungsgrundlagen

Die Substanz der britischen Verfassung kann auf zwei Prinzipien zurückgeführt werden: die Rule of Law, das heißt, die Gesetzesbindung staatlichen Handelns, und die Parlamentssouveränität. Die Rule of Law schützt die Bürgerinnen und Bürger vor staatlicher Willkür und zwingt das Parlament, der Übertragung von Machtbefugnissen an die Regierung Gesetzesform zu geben. Gesetze können durch eine einfache Mehrheit im Parlament aufgehoben oder verändert werden. Besondere Mehrheiten zur Änderung der Verfassung sind nicht nötig, weil es kein Verfassungsdokument gibt. Die "Verfassungsrealität", wie sie sich im Stand der Gesetzgebung niederschlägt, ist so rasch und flexibel veränderbar .

Vereinfacht wird die Praxis der flexiblen Verfassungsfortentwicklung durch die englische Rechtstradition. Sie beruht auf dem Gewohnheitsrecht (common law ). Hauptmerkmal der Common Law-Tradition ist die Orientierung der Rechtsprechung an Präzedenzfällen, also an Musterentscheidungen, auf die zur Entscheidung neuer Streitfälle zurückgegriffen werden kann und die durch die neue Rechtssetzung weiter entwickelt werden können. Ausgangspunkt für Rechtsentscheidungen ist immer der konkrete Fall und nicht eine allgemeine Regel. Es existiert kein Gesetzbuch, wie beispielsweise das deutsche BGB. Dies gibt der Gesetzesauslegung und damit auch der Verfassungsinterpretation, sofern sie auf Gesetzen beruht, ein hohes Maß an Flexibilität (...).

Die Anpassung der Gesetze und Institutionen des Landes über die Jahrhunderte hinweg war dank der englischen Rechts- und Verfassungstraditionen ohne größere äußerliche Veränderungen möglich. Der verbreitete Eindruck, Großbritannien sei ein Land, das seinen historischen Traditionen in besonderem Maße verbunden ist, beruht oft auf der oberflächlichen Beobachtung dieser formalen Kontinuität. Die Rolle der Monarchie in der britischen Politik oder die des Parlamentes, um nur zwei wichtige Beispiele zu nennen, hat sich aber trotz dieser Kontinuität in den letzten vier Jahrhunderten dramatisch verändert.

Der zweite Grundpfeiler der britischen Verfassung, neben der Bindung staatlichen Handelns an Gesetze, ist die Parlamentssouveränität. Das Parlament verabschiedet die Gesetze und kontrolliert alleine die Gesetzgebung, ist dabei selbst aber nicht an einen übergeordneten Verfassungstext gebunden. Das Parlament, nicht das Volk ist der Verfassungsgeber .Ein Verfassungsgericht, das Parlamentsentscheidungen revidieren könnte, existiert nicht und ist ohne ein Verfassungsdokument nicht denkbar.

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Parlamentssouveränität

Verfassungen demokratischer Staaten legen in der Regel fest, dass die Staatsgewalt vom Volk ausgeht, dass also das Volk souverän ist. Wie ist die britische Besonderheit der Parlamentssouveränität zu erklären, und welche praktische Bedeutung hat sie heute? Errungen wurde die Parlamentssouveränität in der Glorious Revolution der Jahre 1688/89. Sie markierte den Endpunkt des Konfliktes zwischen dem katholischen Herrscherhaus der Stuarts und dem protestantischen Parlament. Die Zustimmung zur Absetzung der Stuarts und zur nachfolgenden Thronbesteigung des Protestanten Wilhelm III. von Oranien und seiner Frau Maria wurde vom Parlament mit einer Reihe verfassungsrechtlicher Auflagen zu seinen Gunsten verbunden. Dieser Freiheitskatalog, die Bill of Rights von 1689, der die absolutistische Herrschaft in Großbritannien beendete und die konstitutionelle Monarchie begründete, gibt die Freiheitsrechte (freie Wahl, freies Rederecht, Steuerrecht) dem Parlament.

Zwar wurde im 19. und 20. Jahrhundert das allgemeine, gleiche, freie und geheime Wahlrecht aufgrund der politischen Forderungen des aufstrebenden Bürgertums, der Arbeiterschaft und der Frauenrechtsbewegung (Suffragetten) von der Liberalen Partei bzw. ihrer Vorläuferpartei, den Whigs, durchgesetzt. An der verfassungsmäßigen Stellung des Parlamentes änderte sich aber nichts. Formal blieben die britischen Bürger Untertanen der Königin und wurden nie Träger der Staatsgewalt. In Großbritannien gab es, anders als in Kontinentaleuropa, keine bürgerlichen oder sozialen Revolutionen oder Umstürze, die die Monarchie beseitigt hätten oder doch zumindest der Volkssouveränität in einem Verfassungsdokument Verfassungsrang erkämpft hätten (...).

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Staatsoberhaupt und Kabinett

Das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland ist eine konstitutionelle Erbmonarchie. Staatsoberhaupt des Landes ist der regierende Monarch. Er oder sie hat die Aufgabe, auf Vorschlag des Premierministers die Regierungsmitglieder, die Bischöfe der Anglikanischen Kirche (der englischen Staatskirche), oberste Richter und die Spitzen des Militärs, das auf den Monarchen vereidigt ist, zu ernennen. Die Aufgaben des Monarchen sind repräsentativer, zeremonieller und integrativer Natur. Die gegenwärtige Königin Elizabeth II. aus der Familie Hannover-Windsor-Mountbatten regiert seit 1952, sie (bzw. die königliche Familie) vertritt das Land im In- und Ausland, und ist Oberhaupt der Anglikanischen Staatskirche. Die Königin verleiht Staatsakten, wie der alljährlichen Parlamentseröffnung, zu deren Anlass sie die vom Premierminister verfasste Regierungserklärung (Thronrede) verliest, Legitimität. Ihre Position über dem Parteienstreit macht sie zur allgemein anerkannten nationalen Integrationsfigur selbst in Kriegs- und Krisenzeiten.

Die politisch wichtigste Funktion im britischen Regierungssystem ist die des Premierministers. Britische Premierminister sind mächtig, weil sie über ein großes Patronagepotential verfügen, das ihnen beispielsweise erlaubt, circa 100 Abgeordnete der Regierungspartei zu Ministern innerhalb und außerhalb ihres Kabinetts und in andere Regierungsämter zu befördern und die Leitungsgremien einer Vielzahl öffentlicher Ämter vom Gesundheitswesen über die Fremdenverkehrsförderung bis hin zur BBC zu bestellen. Ihre Macht gründet sich auch auf die Loyalität ihrer Partei, deren Vorsitzende sie sind, im Parlament und auf die Tatsache, dass sie in der Regel nicht in Koalitionen eingebunden sind.

Premierminister suchen heute Zustimmung für ihre Politik immer stärker in direktem Kontakt zum Volk mit Hilfe der Medien. Die Einflussnahme auf die Berichterstattung über die Regierung, die professionelle Kontrolle des eigenen Erscheinungsbildes in der Öffentlichkeit ist für den Regierungschef inzwischen mindestens so wichtig geworden wie die Substanz der Regierungstätigkeit. Traditionell wird für das "Management" der öffentlichen Meinung die Geheimhaltung und die selektive und taktische Weitergabe von Informationen eingesetzt. Für letztere eignet sich vor allem der Lobby-Journalismus. Über den Zugang zu dem exklusiven "Club" von circa 150 Journalisten, die täglich vom Regierungssprecher "vertrauliche" Informationen erhalten, deren Quelle sie nicht publizieren dürfen, entscheidet die Regierung. Tony Blair hat die Einflussnahme auf die Berichterstattung über die Regierungspolitik dadurch perfektioniert, dass er einerseits keinem Kabinettsmitglied erlaubt, ohne ausdrückliche Genehmigung des Premierministers politische Erklärungen abzugeben, und dass es andererseits Aufgabe seiner mit der Öffentlichkeitsarbeit betrauten Mitarbeiter (der sogenannten "spin doctors") ist, möglichst selbst die Initiative zu ergreifen und, wie zu Wahlkampfzeiten, mit für die Regierung günstigen Themen die Schlagzeilen zu erobern. Das Parlament tritt ebenso wie die Ministerriege bei einem solchen mediengerechten und personalisierten, an der Amtsauffassung des amerikanischen Präsidenten ausgerichteten Politikstil in den Hintergrund.

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Arbeitsprinzipien

Die Regierungsarbeit orientiert sich an drei traditionellen Prinzipien:

Das erste Prinzip, die dominante Stellung des Premierministers, beinhaltet zum einen die Kompetenz zur Bestimmung der Richtlinien der Politik (...). Darüber hinaus wirkt sich die hervorgehobene Rolle des Premierministers aber auch auf Entscheidungsprozesse innerhalb der Regierung aus. Der Premierminister vermag diese auf viele ad hoc gegründete Kabinettszirkel zu verteilen, die er oder seine Vertrauten kontrollieren. Weit mehr als in Deutschland sind diese internen Entscheidungsprozesse vor der Öffentlichkeit abgeschirmt. Wichtiger noch ist die Fähigkeit des Premierministers, weitgehende Entscheidungsgewalt auszuüben, die weder durch einen Koalitionspartner, noch durch einen Verfassungstext, ein Verfassungsgericht, das Staatsoberhaupt oder das Parlament begrenzt ist. Das britische Regierungssystem wird deshalb auch als Premierministerregierung (prime ministerial government) oder polemisch sogar als "Wahldiktatur" (elective dictatorship ) bezeichnet. Wie der jeweilige Premierminister seine weitreichenden Gestaltungsmöglichkeiten wahrnimmt, hängt selbstverständlich von der Person des Amtsinhabers ab. Margaret Thatcher war in ihrer Amtszeit als konservative Regierungschefin von 1979 bis 1990 bekannt für ihr hartes Kabinettsregime und für ihren, an festen politischen Prinzipien ausgerichteten politischen Gestaltungswillen. Tony Blair übt eine ähnlich strenge Kontrolle über sein Kabinett aus, auch wenn er bislang ideologisch weit weniger festgelegt erscheint, als dies Margaret Thatcher war (...).

[aus: Roland Sturm: Regierung und Verwaltung; in: Informationen zur Politischen Bildung 262, "Großbritannien", Bonn BpB 1999]

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