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Ist
das britische Zweiparteiensystem ein Mythos? |
Nicht
zuletzt die großen Wahlerfolge der sozialdemokratisch-liberalen
Allianz, deren Stimmenanteil bei den Unterhauswahlen des Jahres 1983 nur
um 2,2 Punkte hinter dem der Labour Party lag, haben die Frage
aufgeworfen, ob man noch zu Recht von einem Zweiparteiensystem in
Großbritannien sprechen kann. Die hohen Stimmenanteile zahlten sich
für die Allianz freilich in Unterhaussitzen kaum aus. Bei 25,4 Prozent
der Stimmen erhielt sie nur 23 Abgeordnetensitze, während Labour mit
27,6 Prozent 209 Abgeordnete nach London schicken konnte. Draußen im
Lande, insbesondere auch auf der kommunalen Ebene, zeichneten sich
jedoch deutlich die Konturen eines dauerhaften Dreiparteiensystems ab,
in Schottland und Wales sogar die eines Vierparteiensystems. Mehr als
das. Diejenigen, die das britische Zweiparteiensystem für einen Mythos
halten, können nicht nur auf aktuelle Entwicklungen verweisen, sondern
auch historische Fakten für sich ins Feld führen (...).
Trotz
dieser unbestreitbaren Veränderungen ist es nach wie vor angebracht,
das britische Parteiensystem im Kern als ein Zweiparteiensystem zu
begreifen. Dafür spricht einmal die Funktionsweise des politischen
Systems, das, auch im Kalkül der politischen Eliten, überwiegend als
ein durch das Mehrheitswahlrecht zusätzlich abgesicherter Dualismus von
Regierungs- und Oppositionspartei verstanden und entsprechend
praktiziert wird. Dafür spricht zum anderen die politische Kultur des
Landes, die, gerade auch in der nachwachsenden Generation, das
Mehrheitswahlrecht und das Prinzip der Einparteienregierung auf Zeit
kulturell trägt und unterstützt, obwohl die »Unfairness« des
bestehenden Wahlsystems durchaus bewusst ist und, abstrakt befragt,
mehrheitlich durchaus ein faireres Wahlsystem befürwortet wird. Vor die
Alternative gestellt: Fairness des Wahlverfahrens oder effektive
Regierung entscheidet sich jedoch immer noch die übergroße Mehrheit
für eine Beibehaltung des bisherigen Systems, am stärksten die
Anhänger der Konservativen, gefolgt von denen der Labour Party und
der Scottish National Party.
[aus:
Karl Rohe: Parteien und Parteiensystem; in: Hans Kastendiek u.a. (Hg.),
Länderbericht Großbritannien, Bonn BpB 1994] |
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Zweiparteiensystem |
Häufig ist behauptet
worden, dass in Großbritannien das Ende des Zweiparteiensystems
gekommen sei und das Parteienduopol seine Machtstellung nur noch mit
Hilfe des Mehrheitswahlrechts aufrechterhalte. Die Anhänger dieser
These gehen dabei von folgenden Indikatoren für das Vorhandensein eines
Zweiparteiensystems aus:
1. Durchschnittlich sind weniger als drei (ernsthafte) Kandidaten pro
Wahlkreis vorhanden.
2. Das Parteienduopol erzielt regelmäßig mehr als 90 Prozent der
abgegebenen Stimmen.
3. Eine Partei verfügt über eine ausreichende parlamentarische
Mehrheit.
4. Geringe Stimmenveränderungen können bereits einen Regierungswechsel
herbeiführen.
Werden diese
Voraussetzungen zugrunde gelegt, dann kann in bezug auf Großbritannien
in der Tat nicht mehr von einem Zweiparteiensystem gesprochen werden.
Demgegenüber wird jedoch nach Sartori eine Partei nur dann als relevant
für das Parteiensystem betrachtet, wenn sie erstens über
Parlamentssitze verfügt und zweitens Regierungs- bzw. Störpotential
besitzt, also in positiver oder negativer Weise auf die
Regierungsbildung einzuwirken vermag. Nach diesen Relevanzkriterien
lässt sich Großbritannien auch weiterhin als Zweiparteiensystem
einordnen. Dafür spricht auch dessen Funktionsweise. "Wenn
Parteiensysteme nach dem numerischen Kriterium klassifiziert werden,
werden sie auf der Grundlage ihres Formats klassifiziert — wie
viele Parteien sie enthalten. Aber das Format interessiert nur insoweit,
als es die Mechanik beeinflusst — wie das System
funktioniert." Im Gegensatz zu den instabilen
Mehrheitsverhältnissen der siebziger Jahre sind die achtziger Jahre
durch eine deutliche Konsolidierung dieser Systemmechanik
gekennzeichnet.
Die Funktionstüchtigkeit
des Zweiparteiensystems beruht auf drei Säulen:
1. Institutionell auf dem konkurrenzdemokratischen Dualismus von
Regierung und Opposition, der sich u. a. im Mehrheitswahlrecht
ausdrückt.
2. Sozialstrukturell auf sozialen und regionalen Bindungen der Wähler
an das Parteienduopol.
3. Habituell auf einer politischen Kultur, die der Bildung
funktionsfähiger, mit einem klaren Handlungsprogramm ausgestatteter
Regierungen größere Bedeutung beimisst als der möglichst genauen
Spiegelung des Meinungsspektrums im Parlament. Die Unterordnung des
Partizipationsgedankens unter das Prinzip demokratisch legitimierten,
effizienten Regierens ist eine charakteristische Facette der britischen
politischen Kultur.
Die Wurzeln des
Zweiparteiensystems reichen tiefer, als die Vertreter der These vom Ende
des Duopols meinen. Die Großparteien verfügen über beträchtliche
Anpassungsfristen an Veränderungen des Wählerverhaltens und des
Parteienmarkts, bevor ihnen Drittparteien gefährlich werden können.
Diese üben eine komplementäre Funktion aus. Sie signalisieren in
erster Linie Unzufriedenheit und Protest, zuweilen auch schlichtes
Misstrauen in die Sachkompetenz der Großparteien.
[aus: André Kaiser:
Wahlen und Parteiensystem in der Ära Thatcher; in: Aus Politik und
Zeitgeschichte 28/1991] |