Zukunft

 

Demokratie
Buchauszug

Die Zukunft der Demokratie

Übersicht:

Weltweiter Sieg der liberalen Demokratie? Demokratie und Expertokratie
Demokratie im 20. Jahrhundert — Gefährdungen und Erfolge Krisensymptome der Gegenwart
Das Beispiel Algerien Rechtsstaat und Demokratie sind untrennbar

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Weltweiter Sieg der liberalen Demokratie?

Im März 1985 wurde Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU gewählt und leitete alsbald eine Reformpolitik mit dem Ziel ein, die Sowjetunion aus wirtschaftlicher Krise und Stagnation herauszuführen. Nicht um die Übernahme westlicher Demokratievorstellungen ging es ihm, sondern die Sowjetunion sollte durch Reformen (Perestroika) und Durchschaubarkeit der Entscheidungen (Glasnost) fit gemacht werden für die Anforderungen der Gegenwart und Zukunft.

Die rasch verlaufende Entwicklung führte — gewiss ungewollt — zum Zusammenbruch der Systeme des "real existierenden Sozialismus" und scheinbar zum weltweiten Sieg der liberalen Demokratie.

Angesichts diesen Triumphes ist der warnende Hinweis angebracht, dass es erhebliche Anfechtungen der Demokratie gegeben hat und auch sicher in Zukunft geben wird.

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Demokratie im 20. Jahrhundert — Gefährdungen und Erfolge

Die folgende kurze geschichtliche Übersicht möge die bewegte Geschichte der Demokratie im 20. Jahrhundert, ihre Gefährdungen und ihre Erfolge, vergegenwärtigen.

Um 1930 etablierten sich überall in Europa autoritäre Systeme, Demokratie und Liberalismus schienen abgewirtschaftet zu haben. Nach 1945 setzte eine demokratische Renaissance ein, der auch verbliebene autoritäre Systeme wie in Spanien, Portugal und Griechenland auf die Dauer nicht widerstehen konnten. Angefochten wurde die liberale Demokratie westlicher Prägung allerdings von der sozialistischen Demokratie des Ostblocks, die ab 1968 zunehmend im Westen Anhänger gewann. Mit dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch fast aller Ordnungen des "real existierenden Sozialismus" scheint der Siegeszug des westlichen Demokratiemodells über konkurrierende Systeme vollendet zu sein.

Wie konnte es soweit kommen, dass die scheinbar labilen liberalen Demokratien sich gegenüber den scheinbar stabilen revolutionär-totalitären (Mussolini, Hitler, Stalin) oder bürokratisch-totalitären (Breschnew, Ulbricht/Honecker) und autoritären (Spanien, Portugal, Griechenland) so gründlich durchsetzen konnten, dass dort die liberale Demokratie als vorbildlich erkannt und übernommen wurde? Alexander Jakowlew, einer der führenden Reformer in der ehemaligen Sowjetunion, begründete die Überlegenheit der Demokratie in dreifacher Weise:

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Ihr Ziel ist die Erneuerung des politischen Systems, um den Lebensstandard zu heben und soziale Sicherheit zu gewährleisten. Die Erstarrung der politischen Ordnung gilt es zu vermeiden und die Funktionsfähigkeit und die internationale Konkurrenzfähigkeit zu verbessern.

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Die Methode, dies Ziel zu erreichen, liegt im Parteienpluralismus, der die Flexibilität des Systems gewährleisten soll.

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Die Rechtfertigung der Umgestaltung besteht in der dynamischen Stabilität eines für Veränderungen offenen demokratischen Systems.

Die Genugtuung über den Triumph einer oft herabgesetzten und manchmal überwunden geglaubten Form der Ordnung darf nicht von der Tatsache ablenken, dass nichts endgültig ist. Veränderungen können sich, wie das Schicksal der Demokratie im 20. Jahrhundert beweist, auch negativ auswirken.

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Das Beispiel Algerien

Ein Beispiel dafür ist das Schicksal der Demokratie in Algerien, wo am 26. Dezember 1991 Parlamentswahlen mit einem Sieg der islamischen Heilsfront endeten. Deren erklärtes Ziel war die Abschaffung aller Ansätze westlicher Demokratie zugunsten eines islamischen Gottesstaates. Diese Entwicklung wurde durch das Eingreifen des Militärs verhindert, das die Wahlsieger verhaftete und auf diese Weise mit undemokratischen Mitteln den "Souverän", das Wahlvolk, daran hinderte, auf demokratischem Weg die Demokratie durch ein totalitäres System zu ersetzen.

Gewiss handelt es sich hierbei um ein problematisches Vorgehen, dessen Rechtfertigung in der historischen Erfahrung liegt, dass freiheitliche Grundwerte nicht zur Disposition des Wählers stehen dürfen. (...) Zugleich beweist das algerische Beispiel, wie sehr soziale Sicherheit Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie ist.

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Demokratie und Expertokratie

Nach wie vor ringen in den westlichen demokratischen Ordnungen zwei gegenläufige Tendenzen miteinander: Auf der einen Seite die demokratische Tendenz: Der Wille zur Mitbestimmung und Beteiligung aller im Prinzip gleichen Staatsbürger; auf der anderen Seite eine oligarchische Tendenz. Die Kompliziertheit des politisch gesellschaftlichen Gefüges erfordert Experten, Sachverständige, die auf eng begrenzten Gebieten Entscheidungen vorbereiten und treffen.

Mit den Massenorganisationen und den politischen Parteien entwickelte sich eine Form der Demokratie, in der Mitbestimmung und "Expertokratie" vereinigt wurden. Die Parteien wurden ein unentbehrliches Werkzeug, um das sich selbst organisierende Volk aktionsfähig zu machen. Der Volkswille kann nur in den Parteien als den politischen Handlungseinheiten erscheinen (...).

Es ist eine Tatsache, dass in Demokratien auch Minderheiten den politischen Prozess in Gang setzen und betreiben. Die Kritik richtet sich dagegen, dass im parlamentarisch-repräsentativen, von politischen Parteien getragenen System ein Misstrauen der Gewählten gegenüber dem Souverän, dem Volk, herrscht. Diese Tatsache findet ihre Erklärung in der Ausweitung der Staatstätigkeit und der zunehmenden Kompliziertheit und Unüberschaubarkeit der Gesellschaft. Das Gefühl, von politischen Vorgängen nicht betroffen oder ihnen hilflos ausgeliefert zu sein, führt zu politischer Apathie. So stehen der passiven Mehrheit informierte und sachverständige Experten gegenüber, die jedoch nur geringen Kontakt zu den Betroffenen haben. Infolgedessen kommt es bei Teilen der Bevölkerung zu Reaktionen, die von Unverständnis über Verweigerung bis hin zur offenen Auflehnung und Gewaltanwendung reichen. Dass diese Entwicklung zu einer Gefahr für den in einer Demokratie notwendigen Konsens führt, liegt auf der Hand.

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Krisensymptome der Gegenwart

Weltweite Veränderungen hängen damit zusammen. Wir leben in einer Zeit laufender Wandlungen und der Umwertung von Werten. Die gärenden Widersprüche der Zeit äußern sich in einem allgemeinen Krisenbewusstsein, das eine Gegenwartsdiagnose nötig macht. Die Antwort auf die Frage, woher wir kommen, wo wir stehen und wohin wir gehen, ist in der Krise der Werte und Maßstäbe nicht selbstverständlich, sondern muss mühsam gesucht werden. Die Krise des Staatsbewusstseins und des Rechtsstaates ist eingebettet in ein globales Krisenbewusstsein unserer Tage. Der Fortschrittsoptimismus der sechziger und frühen siebziger Jahre ist abgelöst worden durch einen weltweiten Pessimismus.

Im einzelnen handelt es sich um Befürchtungen:

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Vor extremistischer Staats- und Gesellschaftsgefährdung.

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Vor dem Versagen ökonomischer Effizienz, Aufbrauchen der Ressourcen der Erde, was zum Ende des Wohlstandes und der sozialen Sicherheit führt. Die Bedrohungen durch eine weltweite Völkerwanderung aus Gebieten wirtschaftlicher Not in die reichen Staaten des industrialisierten Nordens und Westens gehören dazu.

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Vor Krieg und Rüstungswettlauf. Der Zerfall der Weltordnung von Jalta und Potsdam bringt das Ende eines fast 50jährigen relativ stabilen internationalen Systems. Große weltpolitische Bruchlinien wie der Ost-West- und der Nord-Süd-Konflikt gehen über in zahllose begrenzte, aber gerade deswegen unüberschaubare explosive Krisenherde.

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Vor einer ökologischen Katastrophe.

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Vor dem Zerfall der Moral. Kriminalität und Terror ereignen sich nicht nur, sie werden als Widerstand moralisch gerechtfertigt.

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Demokratie und Rechtsstaat werden infolge dessen als gefährdet angesehen.

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Rechtsstaat und Demokratie sind untrennbar

(...) Jedem Staatsbürger muss deutlich werden, warum wir heute eigentlich für die Bewahrung der parlamentarischen, repräsentativen Demokratie eintreten. Aufgrund der historischen Erfahrungen muss deutlich sein, dass der Rechtsstaat heute ohne Demokratie nicht denkbar ist. Die Komplexität der Gesellschaft erfordert öffentliche Kontrolle, weil andernfalls eine unkontrollierte Herrschaft, eine diktaturähnliche Machtausübung eintritt. Heute muss das nicht einmal die Herrschaft eines einzelnen Diktators, sondern kann die Herrschaft einer unkontrollierten Expertokratie oder — was weitaus schlimmer wäre — die Herrschaft einer uninformierten, emotionalen, manipulierten Masse bedeuten. Noch am Anfang des 20. Jahrhunderts war es durchaus denkbar, dass Rechtsstaatlichkeit auch ohne Demokratie möglich ist. Heute sind Rechtsstaat und Demokratie untrennbar verbunden. Der weltanschauliche Pluralismus muss sich frei äußern können, der Staat hat weltanschaulich neutral zu sein. Jede weltanschauliche Gebundenheit bedeutet Unterdrückung der Andersdenkenden(...).

Mit dieser Überlegung schließt sich der Kreis in unserer Demokratie-Betrachtung (...). Die Gefahr geht nicht nur von einem Diktator aus, sondern auch eine auf Leidenschaft und Mangel an Vernunft beruhende Tyrannei der Mehrheit ist gefährlich und schädlich. Ein Mittel dagegen ist in den institutionellen Sicherungen einer repräsentativen Demokratie zu suchen, in der sich verschiedene Gewalten gegenseitig kontrollieren, und eine funktionierende Rechtsordnung Unvernunft und Leidenschaften bändigt. Nötig ist nur, dass diese Institutionen von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert werden, dass die Gewählten sich nicht von ihren Wählern entfernen (...). Eine vorsichtig dosierte Beteiligung der Bevölkerung, um die "Zuschauerdemokratie" und unkontrollierte Ausbrüche von Unzufriedenheit zu vermeiden und das Gefühl der Verantwortung fürs Ganze zu stärken, kann einen Weg für die notwendige Weiterentwicklung der Demokratie und ihre Anpassung an die Erfordernisse der Zeit darstellen.

[Hans-Helmuth Knütter; entnommen aus: Bundeszentrale für politische Bildung: Demokratie, Informationen zur politischen Bildung Nr. 165, Neudruck 1992]

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