Ebenen

 

Demokratie

Die sechs Ebenen der Gewaltenteilung - eine Neuinterpretation der traditionellen Lehre

Der folgende Text versucht eine Neuinterpretation der traditionellen Lehre von Montesquieu und unterscheidet sechs Ebenen der Gewaltenteilung im modernen Staat. Er gliedert sich in folgende Kapitel:

1

Montesquieu — der meist missverstandene Theoretiker

6

Machtübergewicht der Regierungen

2

Keine strikte Trennung der Gewalten

7

Gemeinsame Entscheidungen

3

Neuinterpretation der Gewaltenteilung

8

Regierung plus Parlamentsmehrheit contra Opposition

4

Sechs Ebenen der Gewaltenteilung

9

Regierungsmehrheit

5

Gewaltenvermischende Elemente

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Buchauszug

Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung

Montesquieu — der meist missverstandene Theoretiker

Die Diskussion um die Gewaltenteilung beginnt nicht mit Montesquieu. Sie hat ihre Anfänge im griechischen Altertum und sie reißt im Mittelalter nicht ab. Auch hat Montesquieu in John Locke (1632-1704) einen Vorläufer, der gewichtige Teile seiner Theorie vorwegnahm. Doch Montesquieu (1689-1755) verhalf der Idee der Gewaltenteilung zum Durchbruch, und er ist derjenige Denker, auf den man sich in der Folgezeit bei der Erörterung von Gewaltenteilungsproblemen immer wieder bezogen hat. Montesquieus Vorstellungen von gewaltenteilenden Regelungen sind im wesentlichen im 6. Kapitel des 11. Buches seines Werkes "Vom Geist der Gesetze" niedergelegt, das erstmals 1748 in Genf erschien. Hier findet sich auch der Kernsatz seiner Lehre, der immer wieder zitiert wird: "Alles wäre verloren, wenn entweder ein einziger Mensch oder eine Körperschaft, sei es der Mächtigen, des Adels oder des Volkes, die folgenden drei Gewalten ausüben würde: diejenige, Gesetze zu erlassen, diejenige, öffentliche Beschlüsse auszuführen sowie diejenige, Verbrechen und private Streitigkeiten zu richten."

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Keine strikte Trennung der Gewalten

Die häufig vertretene Meinung jedoch, Montesquieu wolle auf eine totale Unabhängigkeit der drei Gewalten Legislative, Exekutive und Rechtsprechung (Judikative) hinaus, ist nicht zu belegen. Im Gegenteil, in dem erwähnten 6. Kapitel lässt sich eine größere Anzahl von "gewaltendurchbrechenden" und "gewaltenvermischenden" Regelungen nachweisen. Montesquieu gesteht zum Beispiel dem Monarchen als dem Träger der Exekutive ein absolutes Vetorecht gegen Entscheidungen der Legislative zu, um der Gefahr vorzubeugen, dass diese "despotisch" wird. Dem Parlament räumt Montesquieu das Recht ein, nachträglich darüber zu wachen, ob die Exekutive seine Gesetze richtig ausführt. Außerdem hat das Parlament das Recht, die Minister und Beamten des Königs einem Gerichtsverfahren zu unterziehen, wenn sie sich über die Gesetze hinwegsetzen. Um hier nur noch ein Beispiel zu bringen: Montesquieu teilt dem Oberhaus neben seinen gesetzgebenden Befugnissen auch Befugnisse in der Rechtsprechung zu. Die Adligen sollen nämlich nicht von ordentlichen Gerichten abgeurteilt werden, sondern von der Ersten Kammer des Parlaments, damit nicht Neider, sondern Gleichgestellte über sie urteilen.

Diese Beispiele dürften ausreichend belegen, dass Montesquieu nicht auf einer strikten Gewaltentrennung besteht und dass er sich nicht auf institutionelle Mechanismen allein verlässt, sondern die gesellschaftlichen Gruppierungen der damaligen Zeit in seine gewaltenbalancierenden Überlegungen einbezieht. Montesquieus Gewaltenteilungslehre ist nur verständlich, wenn man neben den institutionellen Regelungen auch seine Vorstellungen von der gesellschaftlichen Ebene der Gewaltenteilung im Auge behält. Wie wichtig diese Ebene der Gewaltenteilung für Montesquieu ist, zeigt sich in einem "Versehen" (Martin Draht), das sich wiederum im 6. Kapitel des 11. Buches findet: "So sieht also die Verfassung, von der wir gesprochen haben, in ihren Grundzügen aus. Die Legislative setzt sich aus zwei Teilen zusammen, die sich durch ihr wechselseitiges Verhinderungsrecht gegenseitig an die Kette legen. Beide werden durch die exekutive Gewalt gebunden (liées), welche ihrerseits wiederum durch die Legislative gebunden wird. Diese drei Gewalten ..." Obwohl Montesquieu in diesem Zusammenhang die Judikative überhaupt nicht erwähnt, spricht er von drei Gewalten, womit er den an der Spitze der Exekutive stehenden Monarchen, den die Erste Kammer stellenden Adel und das in der zweiten Kammer vertretene Bürgertum meint. Die immense Bedeutung der gesellschaftlichen Ebene der Gewaltenteilung wird auch deutlich in den Ausführungen Montesquieus zur Judikative, unter anderem in den erwähnten Bemühungen um den Schutz des Adels bei Gerichtsprozessen.

Montesquieu geht es im wesentlichen nicht um eine funktionelle und personelle Trennung der drei Staatsgewalten, es geht ihm in erster Linie um Freiheit und Menschenwürde. Sie will Montesquieu gegen Anarchie und Despotismus verteidigen mittels einer gesetzlichen Ordnung, die Machtmissbrauch möglichst ausschließt. Zur Verhinderung des Machtmissbrauches sei es nötig, so ein Zitat aus dem 4. Kapitel des 11. Buches, "dass eine Gewalt die andere hindere", was nur möglich ist, wenn die Gewalten nicht völlig voneinander abgeschottet sind. Montesquieu ist letztlich — so wird man etwas überspitzt zusammenfassen können — eher ein Theoretiker der Gewaltenhemmung und Gewaltenvermischung als ein Theoretiker der Gewaltenteilung.

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Neuinterpretation der Gewaltenteilung

Seit Montesquieu ist die Lehre der Gewaltenteilung ein Dauerstreitpunkt bei der Diskussion um eine möglichst sinnvolle Gestaltung der Regierungssysteme.

Will man heute die gewaltenteilenden Elemente in einem politischen System herausarbeiten, so wird man sich nicht auf den institutionellen Bereich beschränken dürfen. Man wird sich vielmehr daran erinnern müssen, dass bei Montesquieu neben der institutionellen die gesellschaftliche Ebene der Gewaltenteilung stand. Dieses Faktum schließt einfache Übertragungen Montesquieuscher Ideen auf die heutige Zeit aus. Die Ständegesellschaft, die Montesquieus Werk prägte, gehört der Vergangenheit an, andere gewaltenbeschränkende Elemente sind hinzugekommen. Erinnert sei hier nur an den erstmals in der amerikanischen Verfassung festgeschriebenen föderativen Staatsaufbau, an die Bedeutung der Grundrechte und an die Montesquieu gänzlich unbekannten modernen Parteien und Interessengruppen. Die gewaltenteilenden, -vermischenden und -hemmenden Faktoren sind gegenüber der Zeit von Montesquieu beträchtlich angewachsen. Dies war allerdings auch dringend nötig, da der moderne Staat einen Macht- und Aufgabenzuwachs zu verzeichnen hat, von dem ein Denker des 18. Jahrhunderts noch nicht einmal träumen konnte. Einen griffigen Katalog derjenigen Faktoren, die bei der Verwirklichung der Montesquieuschen Grundideen — Erhaltung von Freiheit und Menschenwürde sowie Verhinderung von staatlichem Machtmissbrauch — heute eine gewichtige Rolle spielen, hat Winfried Steffani formuliert. Er unterscheidet folgende Ebenen:

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Sechs Ebenen der Gewaltenteilung

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Die staatsrechtliche, horizontale Ebene der Gewaltenteilung: Sie beruht im wesentlichen auf der gängigen Unterscheidung von gesetzgebender Gewalt, ausführender oder vollziehender Gewalt und Rechtsprechung, ist aber durch die Einführung des parlamentarischen Regierungssystem und durch die modernen Parteiensysteme erheblich modifiziert worden.

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Die zeitliche Ebene der Gewaltenteilung: In jeder westlichen Demokratie ist die Dauer von Parlamentsmandaten und Regierungsämtern begrenzt. Sie werden durch Wahlen beendet bzw. erneuert. Während die Parteien in einem parlamentarischen Regierungssystem auf der staatsrechtlichen Ebene teilweise zur Gewaltenvermischung beitragen, stellen sie auf der zeitlichen Ebene die wichtigsten Garanten der Verhinderung von Machtmissbrauch dar, da sie den Wählern Alternativen anbieten und so verhindern, dass eine Einparteidiktatur errichtet wird.

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Die föderative Ebene der Gewaltenteilung: Eine föderative Verfassung begrenzt die Macht der politischen Institutionen des Zentralstaates. Auf der anderen Seite haben die einzelnen Bundesländer einen in den verschiedenen politischen Systemen unterschiedlich geregelten Einfluss auf den Zentralstaat, wie der Bundesrat oder der amerikanische Senat zeigen. Es muss auch daran erinnert werden, dass die bis vor einigen Jahren noch für selbstverständlich gehaltene Aushöhlung des Föderalismus durch den modernen Sozial- und Leistungsstaat bei weitem nicht so automatisch abläuft, wie vielfach angenommen. Die Versuche Ronald Reagans in den USA, Kompetenzen an die Einzelstaaten zurückzuverlagern, waren zwar nicht sonderlich erfolgreich, aber sie machten doch deutlich, dass die Machtverlagerung von den Einzelstaaten zum Zentralstaat keinen automatischen Prozess darstellt.

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Die konstitutionelle Ebene der Gewaltenteilung: Hier muss vor allem auf die Verfassung verwiesen werden. Sie schränkt in den meisten westlichen Demokratien die Entscheidungskompetenzen der jeweiligen Parlamentsmehrheiten ein, weil für Verfassungsänderungen qualifizierte (= Zwei-Drittel-) Mehrheiten verlangt werden (...).

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Die dezisive Ebene (= Entscheidungsebene) der Gewaltenteilung: Der politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozess spielt sich heute nicht allein auf staatlicher Ebene ab und kann so auch nicht ausschließlich mit staatsrechtlichen Kategorien beschrieben werden. Die Einbeziehung der gewaltenhemmenden Wirkung von Parteien, Interessenverbänden und öffentlicher Meinung ist in diesem Zusammenhang unerlässlich.

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Die soziale Ebene der Gewaltenteilung: Trotz der Ablösung des Ständestaates hat sich die heutige Gesellschaft nicht zu einer "nivellierten Mittelstands-Gesellschaft" (Helmut Schelsky) entwickelt. Unterschiedliche Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten verlangen von den politischen Parteien unterschiedliche Angebote und Lösungsvorschläge für anstehende politische Probleme.

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Gewaltenvermischende Elemente

[Eine] Liste der Gewaltendurchbrechungen [in liberal-demokratischen Systemen] ließe sich ohne Schwierigkeiten fortsetzen. Verallgemeinernd kann festgehalten werden, dass in den westlichen Demokratien keine Verfassung ohne solche gewaltendurchbrechenden Elemente auskommt. Dies gilt auch für die Verfassung der Vereinigten Staaten, die in der westlichen Welt als diejenige gilt, die der Forderung nach Gewaltenteilung am ehesten Rechnung trägt. Die Amerikaner sprechen selten isoliert von Gewaltenteilung ("separation of powers"), sie betonen jeweils auch das Prinzip der "checks and balances" und stellen so die gewaltenvermischenden neben die gewaltenteilenden Elemente ihrer Verfassung.

Man kann nun einwenden, die Feststellung, dass alle westlichen Demokratien gewaltenvermischende Elemente aufweisen, sei allein kein Argument gegen die Forderung nach einer verstärkten Gewaltenteilung. Es bedarf deshalb — klammert man die nicht in Frage zu stellende Unabhängigkeit der Judikative aus — zweier weiterer Warnungen.

Zum einen wird die Forderung nach Einhaltung beziehungsweise nach Verstärkung der Gewaltenteilung nicht selten einseitig zugunsten einer bestimmten Institution eingesetzt(...).

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Machtübergewicht der Regierungen

[Hier] ist zu bedenken, dass die heutigen westlichen Demokratien durch ein mehr oder weniger deutliches Machtübergewicht der Regierungen gegenüber den Parlamenten geprägt sind. Die Wandlung des liberalen "Nachtwächterstaates" des 19. Jahrhunderts in den modernen Leistungsstaat hat zu einer immensen Ausweitung der Staatsaufgaben geführt, die in erster Linie von den Regierungen bewältigt werden müssen.

Die "Internationalisierung der Staatspolitik" (Wilhelm Hennis), das stetig wachsende Gewicht internationaler und supranationaler Organisationen, bringt für die Parlamente erhebliche Probleme mit sich, da sie auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen selten über die Funktion eines Erfüllungsgehilfen der Regierung hinauskommen. Auch die sich ausweitende politische Planung stärkt in erster Linie Regierungen und Bürokratien.

Offensichtlicher Beleg für dieses Machtübergewicht der Regierungen sind ihre riesigen Beamtenapparate, die die Hilfsdienste der Parlamente — auch in den USA, wo der Kongress über die im Vergleich zu sämtlichen anderen westlichen Parlamenten beste personelle Unterstützung verfügt — deutlich übertreffen. Die Forderung nach einer verstärkten Gewaltenteilung läuft in erster Linie darauf hinaus, dass die Regierung als mächtigste Institution des Regierungssystems vor Zugriffen des Parlamentes geschützt wird.

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Gemeinsame Entscheidungen

Ein Parlament, dem man die Mitwirkung an der Außenpolitik oder an der politischen Planung versagt und das man auf die Ratifizierung der entsprechenden Regierungsentscheidungen beschränkt, hat in einem parlamentarischen Regierungssystem letztlich nicht einmal mehr die Möglichkeit, die entsprechenden Entscheidungen abzulehnen, da die jeweilige Mehrheit der von ihr getragenen Regierung mit einem solchen Votum indirekt das Misstrauen aussprechen würde. Es kann also letztlich nicht darum gehen, den Entscheidungsspielraum der Regierung in der Außenpolitik, im Planungsbereich oder in anderen Kompetenzen unter Bezugnahme auf Gewaltenteilungsforderungen möglichst vor "Übergriffen" des Parlamentes zu schützen. Es kommt vielmehr umgekehrt darauf an, der Regierung ein möglichst wirksames Gegengewicht entgegenzustellen. Dies ist letztlich nur möglich, wenn grundsätzliche Entscheidungen von Regierung und Parlament zusammen getroffen werden.

Das entscheidende Argument gegen eine solche Folgerung betont, dass hierdurch die Verantwortung für politische Entscheidungen verwischt würde. Weil verschiedene Staatsorgane zuständig seien, bleibe unklar, wer letztlich die Verantwortung für eine bestimmte Entscheidung trage. So gewichtig diese These auch sein mag, sie ist nicht ohne Gegenargument.

Eine klare Trennung der staatlichen Gewalten und der Verantwortung für politische Entscheidungen würde in einem modernen Industrie- und Sozialstaat zu einem solchen Machtübergewicht der Regierungen führen, dass der Kerngedanke Montesquieus — die gegenseitige Hemmung der Gewalten nämlich — verschüttet würde. Außerdem unterscheidet der Wähler, dem es in erster Linie möglich sein muss, die Verantwortung für politische Entscheidungen zuzuordnen, in einem parlamentarischen Regierungesystem und in einem modernen Parteienstaat nicht zwischen Parlament und Regierung, sondern richtigerweise zwischen Regierungsmehrheit und Regierung auf der einen und der Opposition auf der anderen Seite. Bei vielen wichtigen Entscheidungen werden dem Wähler klare Alternativen geboten. Regierungsmehrheit und Regierung stehen zum Beispiel hinter einer Steuerreform, die Oppositionsparteien lehnen sie ab. Die Verantwortung für diese Reform kann der Wähler eindeutig zuordnen und er kann — wenn ihn die Haltung derjenigen Partei, die er bisher bevorzugt hat, nicht überzeugt — gegebenenfalls bei der nächsten Wahl Konsequenzen ziehen.

Die Zuordnung der Verantwortung ist interessanterweise in dem stärker von gewaltenteilenden Elementen geprägten präsidentiellen Regierungssystem der Vereinigten Staaten deutlich schwieriger. Das präsidentielle Regierungssystem selbst ist eine wesentliche Ursache dafür, dass die Abgeordneten des amerikanischen Kongresses meist quer über die Fraktionsgrenzen abstimmen. Die einzelnen politischen Entscheidungen werden von unterschiedlich zusammengesetzten Mehrheiten getragen. Im Parteiensystem der Vereinigten Staaten kann der Wähler nicht die Demokraten oder die Republikaner für bestimmte Entscheidungen verantwortlich machen. Er kann sich bei seiner Wahlentscheidung nur danach richten, wie der jeweilige Abgeordnete seines Wahlkreises sich in bestimmten wichtigen Entscheidungen verhalten hat. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Diskussion um Reformen, die eine klarere Zuordnung politischer Verantwortung ermöglichen, seit den fünfziger Jahren in den Vereinigten Staaten nicht mehr abreißt.

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Regierung plus Parlamentsmehrheit contra Opposition

Das parlamentarische Regierungssystem tastet zwar rein formal die Eigenständigkeit des Parlamentes nicht an. Aber die dem Gewaltenteilungsdenken zugrundeliegende Vorstellung, dass ein eigenständiges Parlament als Ganzes einer von ihm unabhängigen Regierung gegenüberstünde, gerät zur Fiktion. Die politische Grenzlinie verläuft in erster Linie nicht mehr zwischen dem Parlament auf der einen und der Regierung auf der anderen Seite, die entscheidende Trennungslinie liegt in einem parlamentarischen System zwischen der Regierungs- beziehungsweise Parlamentsmehrheit und der Regierung auf der einen sowie der Opposition auf der anderen Seite. Die Regierungsmehrheit, die heute einen Regierungschef wählt, kann morgen nicht so tun, als ob sie mit dessen Person und Regierung nichts verbinde. Durch eine Verweigerung der Zusammenarbeit mit dem von ihr gestellten Regierungschef würde sie sich selbst einen Fehler bescheinigen — nämlich denjenigen, den falschen (...) gewählt zu haben. Die Brücke, über die Parlamentsmehrheit und Regierung im heutigen parlamentarischen Regierungssystem verbunden sind, bilden die Parteien. Jedoch muss dies nicht unbedingt bedeuten, dass Regierung und Parlamentsmehrheit eine absolute Einheit darstellen. Die unterschiedliche Intensität der Beziehungen zwischen diesen beiden Organen hängt in erster Linie ab von der Anzahl der Parteien, die zur Bildung einer Regierung notwendig sind:

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Regierungsmehrheit

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Die häufig beschworene Einheit von Regierung und Regierungsmehrheit kommt am ehesten dann zustande, wenn nur eine Partei die Regierung stellt. Das ist definitionsgemäß in Zweiparteiensystemen der Fall, kann aber in Ausnahmefällen auch in Mehrparteiensystemen vorkommen (...). Auch wenn nur eine Partei die Regierung stellt, wird es unterschiedliche Auffassungen zwischen der Regierungspartei oder Teilen der Regierungspartei und der Regierung geben. Sie werden zwar versuchen, ihre Differenzen vor der Öffentlichkeit zu verbergen, aber Streitigkeiten werden nicht ausbleiben. Die Regierung kann zwar darauf setzen, dass sie in der Regierungsmehrheit eine treue Gefolgschaft hat, aber sie darf diese Treue nicht allzu sehr strapazieren, will sie keine Palastrevolutionen heraufbeschwören.

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Keine Einheit von Regierung und Regierungsmehrheit, aber eine relativ gute Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten ist dann zu erwarten, wenn zwar mehrere Parteien für eine Regierungsbildung nötig sind, jedoch vor der Wahl klar ist, welche Parteien im Falle eines Wahlsieges bereit sind, zusammen eine Regierung zu bilden. Durch diese Festlegung vor der Wahl binden sich die Parteien selbst gegenüber ihren Wählern. Es ist für sie mit erheblichen Gefahren verbunden, wenn sie während der Legislaturperiode von diesem Versprechen abrucken (...).

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Ein Vielparteiensystem, bei dem vor der Wahl nicht klar ist, wer mit wem eine Regierung bildet, kann noch am ehesten dazu führen, dass Parlament und Regierung sich gemäß den klassischen Vorstellungen gegenüberstehen. Es liegt in der Logik einer Situation, in der mehr als drei Parteien zur Regierungsbildung notwendig sind, dass sich die einzelnen Parteien vor der Wahl bestenfalls vage festlegen, um nicht von vorneherein eine Regierungsbildung unmöglich zu machen. In solchen Systemen — die IV. Republik Frankreichs oder Italien nach dem Zweiten Weltkrieg liefern Beispiele — bildet der Regierungssturz den Normalfall. Je eher in einem parlamentarischen Regierungssystem das Parlament noch als Gegenüber der Regierung betrachtet werden kann, desto instabiler ist gewöhnlich das System.

[Emil Hübner; entnommen aus: Bundeszentrale für politische Bildung: Parlamentarische Demokratie 1, Informationen zur politischen Bildung Nr. 227, 1993]

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