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Ein zentrales Grundprinzip des politischen Systems Großbritanniens ist die Parlamentssouveränität (siehe Seite Regierungssystem). Hier unterscheidet sich Großbritannien von den meisten Demokratien, die dem Prinzip der Volkssouveränität folgen. Der folgende Text nennt die wesentlichen Besonderheiten des britischen Zweikammerparlaments. Ein weiterer Abschnitt diskutiert das Prinzip der Parlamentssouveränität und fragt unter anderem, ob die britische Königin ihr eigenes Todesurteil unterschreiben müsste, wenn das Parlament dies beschließen sollte [...zum Text "Diskussion"]. Das britische Parlament ist ein Zweikammerparlament bestehend aus dem Unterhaus (House of Commons) und dem Oberhaus (House of Lords). lm Unterhaus sitzen sich die gewählten Abgeordneten der Regierung und der Opposition gegenüber. Im Lager der Regierung kann unterschieden werden zwischen denjenigen Abgeordneten, die auch Regierungsämter innehaben, und den sogenannten "Hinterbänklern" (backbenchers) ohne Regierungsamt. Oppositionsführer ist ein staatlich besoldetes Amt. Die Parlamentssitzungen werden vom Sprecher (Speaker) geleitet, der aus der Mitte des Parlamentes gewählt wird. Nicht immer setzt sich der Kandidat der Regierungspartei durch, denn selbst deren Hinterbänkler achten darauf, dass der Speaker eine Amtsführung anstrebt, die auch die Interessen aller Parlamentarierinnen und Parlamentarier und nicht nur diejenigen der Regierung berücksichtigt. Die soziale Zusammensetzung des Unterhauses spiegelt, wie in anderen Demokratien auch, nicht den Bevölkerungsdurchschnitt wider. Die meisten Parlamentarier sind zwischen 40 und 60 Jahre alt und männlich. 1997 verdoppelte sich die Zahl der weiblichen Abgeordneten im Parlament auf 120 (101 Labour-Mitglieder; 13 Konservative; drei Liberal Democrats; zwei Angehörige der Scottish National Party und als Speaker: Betty Boothroyd, Labour). Das sind 18 Prozent aller Abgeordneten. Die Zahl der Abgeordneten mit Universitätsausbildung hat 1997 in allen Parteien zugenommen (66 Prozent bei Labour: 81 Prozent bei den Conservatives und 70 Prozent bei den Liberal Democrats). In allen Parteien dominieren die Angehörigen der Mittelschichten. Bei den akademischen Berufen sind in der Labour Party besonders die Lehrer und Hochschullehrer vertreten, bei der Konservativen Partei die Anwälte. Aus der Wirtschaft kommen in der Labour-Parlamentsfraktion Facharbeiter, leitende Angestellte und Arbeiter. In der Fraktion der Konservativen Partei ist die Wirtschaft vor allem durch Firmenvorstände und -direktoren vertreten. Aufgaben
Ausschüsse werden in der Gesetzgebungsarbeit ad hoc zur Beratung von Einzelbestimmungen einberufen. Sie tagen nach der zweiten von drei Lesungen eines Gesetzes im Parlament entweder als kleinere Gruppe von Parlamentariern oder als sogenanntes "committee of the whole house". In letzterem Fall verlässt der Speaker seinen Platz, und das ganze Parlament wird zum Ausschuss. Eigenständige Kontrollfunktionen, vor allem im Zusammenhang mit dem Haushalt, kann die Opposition nur durch die Gestaltung von 20 Sitzungen pro Jahr wahrnehmen, an denen sie die Tagesordnung der parlamentarischen Beratungen bestimmt sowie durch schriftliche und mündliche Anfragen und durch Debatten mit Vertretern der Regierung in der Fragestunde. Fachausschüsse, die die Arbeit von Ministerien begleiten, gibt es in Großbritannien nur außerhalb des Gesetzgebungsprozesses. Sie beobachten ihre Ministerien und verfassen Berichte zu aktuellen Themen. Die Effizienz dieser Ausschüsse ist allerdings begrenzt, weil sie nicht nur von der Regierungsfraktion beherrscht sind, sondern bisher auch noch von der Bereitschaft der Regierung abhängen, sie mit den gewünschten Informationen zu versorgen. Das Recht der Regierung, dem Parlament und der Öffentlichkeit Interna weitgehend vorzuenthalten und die Weitergabe von Informationen juristisch verfolgen zu lassen, wurde in der Vergangenheit extensiv genutzt. Die Regierung Blair hat sich für größere Transparenz von Regierungsentscheidungen ausgesprochen. Der geplante Freedom of Information Act (Gesetz über die Informationsfreiheit), der den Zugang einzelner Bürgerinnen und Bürger zu Regierungsinformationen verbessern soll, mag in Zukunft auch den Fachausschüssen, den Select Committees, helfen, ihre politischen Kontrollaufgaben wirkungsvoller zu gestalten. Oberhaus Die über 1000 Mitglieder des Oberhauses werden nicht gewählt. Etwa zwei Drittel der Lords haben ihre Peers-Würde geerbt. Die politisch aktiven Lords sind meist solche, die ernannt wurden. 1958 wurde als neue Form die Ernennung auf Lebenszeit ohne Möglichkeit der Vererbung des Titels eingeführt (life peers). Zu unterscheiden ist zwischen den Lords Spiritual, den geistlichen Lords, also den Erzbischöfen und Bischöfen der Anglikanischen Kirche, und den Lords Temporal, den weltlichen Lords. Zu ihnen gehören auch die Mitglieder der königlichen Familie sowie die Law Lords. Dies sind hochqualifizierte Richter, die geadelt und ins Oberhaus berufen wurden. Sie bilden den juristischen Ausschuss des Oberhauses, der in Zivil- und Strafsachen als letzte juristische Berufungsinstanz, als höchstes Gericht des Landes, fungiert. Das Oberhaus hat seit 1911 im Gesetzgebungsprozess nur noch ein aufschiebendes Veto. Dessen Wirkung erstreckt sich nicht auf Finanzgesetze. Seit 1949 ist es dem Oberhaus nur noch möglich, ein Gesetzesvorhaben des Unterhauses höchstens ein Jahr lang aufzuhalten. Das Oberhaus nimmt zu allen Gesetzentwürfen des Unterhauses Stellung und schlägt oft wertvolle Detailverbesserungen vor. Das Unterhaus kann jeden Einspruch des Oberhauses mit einfacher Mehrheit ablehnen. Es gibt kein Vermittlungsverfahren zwischen beiden Häusern.
[aus: Roland Sturm: Regierung und Verwaltung; in: Informationen zur Politischen Bildung 262, "Großbritannien", Bonn BpB 1999]
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