Mehrheitsprinzip

 

Demokratie

Probleme des Mehrheitsprinzips

Demokratie basiert auf Mehrheitsentscheidungen. Sie sind das wichtigste Instrument zur friedlichen Konfliktlösung. Aber wie die folgenden Texte zeigen, kann das Mehrheitsprinzip keine absolute Geltung beanspruchen. Es ist an Voraussetzungen gebunden (Text 2) und weist durchaus auch problematische Seiten auf (Text 1).

Text 1: Probleme des Mehrheitsprinzips
Text 2: Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

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Probleme des Mehrheitsprinzips

"Der Mehrheitswille wird nur dort dauerhaft als Gemeinwille akzeptiert, wo für die jeweils überstimmte Minderheit nicht zuviel auf dem Spiel steht — und wo es nicht immer dieselben sind, die überstimmt werden.

(...) Die Mehrheit darf keineswegs über alles und nach Belieben entscheiden. Der Verfahrenskonsens erfordert eine Verständigung darüber, auf welche Entscheidungsbereiche das Mehrheitsprinzip überhaupt Anwendung finden kann und auf welche nicht.

(...) Vor allem aber dürfen aktuelle Mehrheiten ihre einmal erreichte politische Überlegenheit nicht festschreiben, etwa indem sie für zukünftige Entscheidungen das Mehrheitsprinzip selbst suspendieren, oder aber durch Manipulation der Wettbewerbschancen es der Minderheit von heute über Gebühr erschweren, die Mehrheit von morgen zu werden.

Eng verbunden mit dem Erfordernis der strukturellen Offenheit des Verfahrens verbunden ist die Grundvoraussetzung der Korrigierbarkeit bzw. Revidierbarkeit von Entscheidungen durch neue Mehrheiten.

(...) Wir stehen heute jedoch in vielen politisch mit zu entscheidenden Fortschrittsfeldern, wie beispielsweise im Bereich der Kernenergie, der Genbeeinflussung, (...) der Waffentechnologie vor politischen Entscheidungen eines historisch neuen Typs. Die hier zu treffenden Entscheidungen sind infolge ihrer historisch unvergleichlichen Reichweite von vornherein auf Seiten der Überstimmten mit dem Bewusstsein der Irreversibilität befrachtet. Jedermann weiß, dass gegen Kernkraftwerke, wenn sie erst mal stehen, ‚neue Mehrheiten‘ nichts mehr nützen.

(...) Das Mehrheitsprinzip arbeitet mit einer ‚Fiktion‘, der Fiktion abstrakter (Teilhabe-) Rechtsgleichheit: ‚one man, one vote‘. Die Stimmen werden gezählt, nicht gewogen. Die ideale Voraussetzung wäre, dass jede Stimme auch etwa gleich wöge, dass in etwa die gleiche Sachkenntnis, das gleiche Engagement, die gleiche Verantwortlichkeit jeweils dahinterstünde. Dass dies ein frommer Wunsch bleibt, leuchtet unmittelbar ein — zumal unter den Bedingungen hochgradiger Interdependenz und wachsender Komplexität.

Je mehr der Staat und die Politik für alles zuständig werden, um so häufiger treffen wir auf die Konstellation, dass apathische, schlecht informierte und mangels ersichtlicher persönlicher Betroffenheit auch völlig desinteressierte Mehrheiten engagierten, sachkundigen und hochgradig betroffenen Minderheiten gegenüberstehen.

[entnommen aus: Bernd Guggenberger/Claus Offe: An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Opladen 1984]

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Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

Demokratische Herrschaft beruht nicht auf Unterwerfung, sondern auf Auftrag. Die Regierenden werden durch die Regierten ins Amt gebracht, sie sind rechenschaftspflichtig und haben ihre Autorität durch die am Auftrag zu messende und im Rahmen der allgemein verbindlichen Normen zu erbringende Leistung auszuweisen. Kennzeichnend für die demokratische Verfahrensweise sind der Kompromiss und die ihm zugrundeliegenden Prämissen — der Kompromiss, der von sich aus friedensfördernd ist, weil er zur Abschleifung gegensätzlicher und unversöhnlicher Positionen führt. Auftragserteilung in der allgemeinen Wahl durch Mehrheitsentscheidung bedeutet, dass sich die Minderheit nur deswegen und nur unter der Voraussetzung einordnet, dass die jeweilige Mehrheit nicht berechtigt ist, der Minderheit die Chance zu nehmen, selbst Mehrheit zu werden. Folglich muss Willensbildung auf den Prinzipien legitimer Vielfalt und nichtdiskriminierender Konkurrenz beruhen; sie muss auch kontroversen und oppositionellen Meinungen die Wettbewerbs- und Mitwirkungschance gewährleisten, was sich im Fortbestand öffentlicher Kritik- und Meinungsfreiheit sowie in der Garantie politisch wichtiger Grundrechtsbereiche ausdrückt. Die Legitimität der Mehrheitsentscheidung folgt also nicht aus sich selbst, sondern aus der vorausgesetzten politischen Gleichberechtigung aller Staatsbürger.

[entnommen aus: Heinrich Oberreuter: Wahrheit statt Mehrheit? An den Grenzen der parlamentarischen Demokratie, München 1986]

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